Melf Holmer - Robert Döhring Quintett
in Hamburg, Birdland


"Warum gibt es so viele instrumentale Jazzstücke? Weil man Jazz nicht in Worte fassen kann."

Das ist die erste Hürde, die es zu überwinden gilt, wenn man einen Jazzkonzertbericht schreiben will. Aber kann man über etwas berichten, von dem man beinahe keine Ahnung hat? Kann ich über Jazz so schreiben, dass es einem Könner nicht die Zehennägel hochrollt? Zur Harmonik werde ich definitiv nichts sagen können, denn mein Gehör ist auf dem Gebiet überhaupt nicht ausgebildet. Prädikat: Eindeutig keine Ahnung! Oder stütze ich mich gerade zu sehr auf die These, dass man aus dem Stehgreif die wildesten Kadenzen nachspielen können muss, um etwas zum Thema Jazz sagen zu dürfen? Was soll's, ich fange einfach mal an!

Es ist wohl hauptsächlich die Neugier, die uns ins Birdland zieht. Wir können weder mit dem Begriff "Groovy Hardbop" noch mit "Blue Note Sound" wirklich etwas anfangen. Aber wir kennen den größten Teil der Namen aus den Jamsessions: Melf Holmer (Trompete), Robert Döhring (Bass), Helmar Marczynski (Tenorsax), Buggy Braune (Piano) und Wolff Reichert (Schlagzeug). Von Buggy und Robert hatten wir uns Ende letzten Jahres schon schwer beeindrucken lassen und Melf gehört für mich seit meinem ersten Birdlandbesuch sozusagen zum Inventar, weil er fast in jeder Jamsession gespielt hat, die ich bisher gesehen habe. Wolff als den sprichwörtlich wohlerzogenen Jazzdrummer live erleben zu können ist so selten geworden, dass Lena dafür ihre Reise nach Hamburg kurzerhand einen Tag vorverlegt hat.

Als wir im Birdland eintreffen, scheint es uns erschreckend leer zu sein. Das könnte allerdings daran liegen, dass wir sonst eher bei den ganz großen Highlights oder den Jamsessions dort sind. Einen Tisch zu reservieren wäre gar nicht nötig gewesen, aber so habe ich die Möglichkeit, mir den zum Fotografieren optimalen Platz auszusuchen. Mein erster Blick gilt wie immer den Instrumenten und fällt auf Buggys Stagepiano zu dem ich behaupte, dass Martin Hornung das gleiche hat. Nord Stage eighty eigth in knallrot. Noch auffälliger ist aber der Kontrabass. So eine Form - Lena nennt sie "mit Speckrolle" - habe ich noch nie gesehen (Anm. vom Tag danach: es scheint sich um die "Busseto-Form" zu handeln. Siehe www.kontrabassblog.de). Aber ich sollte vielleicht lieber über das schreiben, was die Künstler ihren Instrumenten entlocken, statt mich in solchen Details zu verlieren.

Instrumentaljazz zu beschreiben ist gar nicht so einfach. Da die meisten - so wie ich - diese Stücke nicht kennen, macht es wenig Sinn den genauen Ablauf zu erzählen. Es ist eh fast immer so, dass zunächst das Thema gespielt wird, dann Soli der einzelnen Musiker folgen und zum Schluss eine Rückführung ins Thema erfolgt, von der aus es in einen leicht variierten Schlussteil geht. Sozusagen Da capo al "Kopf bis Kopf". Ich beschränke mich also lieber darauf, die Besonderheiten der einzelnen Stücke zu erwähnen. Wenn ich scheinbar nichts Besonderes entdeckt habe, könnte das daran liegen, dass ich einfach nur gebannt zugehört oder jemandem auf die Finger geschaut habe.

Das erste Set begint mit "Cold Ducktime" von Eddie Harris. Besonders gut gefällt mir die Generalpause nach dem Klaviersolo, in der außer dem Taktklopfen nichts zu hören ist, bevor es wieder ins Thema zurückgeht. Weniger ist manchmal mehr und zieht zudem Aufmerksamkeit auf sich. Das tut übrigens auch Buggy, wenn er wie immer seine Soli durch Gesang untermalt ;-)

Buggy Braune
Buggy Braune - Klavier und "Weltraumorgel"


Melf begrüßt die Zuhörer, erläutert kurz die Entstehungsgeschichte dieser Formation und stellt die einzelnen Musiker vor. Bei Buggys rotem Spielzeug stutzt er und weiß nicht so recht, wie er es nennen soll. "E-Piano?" - "Weltraumorgel!" - "Am Flügel und am Raumschiff: Buggy Braune!" Zum zweiten Stück hat Melf eine besondere Verbindung, weil er es schon als Titelmusik der TV-Reihe "Talking Jazz" sehr mochte. Es ist das sehr schön swingende "Once forgotten" von Pamela Watson. Untermalt wird es die ganze Zeit von einem leisen Rasseln. Da Wolff aber nicht mit den Jazzbesen Kreise auf die Snare malt vermute ich, dass mal wieder eine Kette an einem der Becken hängt. Melf steigt von der Trompete aufs Flügelhorn um und bringt damit einen viel weicheren Klang in den Raum. Auch Robert wechselt vom Zupfen zum Streichen und zaubert mit dem Bogen ein hervorragendes Basssolo.

"Falling in love with love" ist ein Arrangement von Helmar, der versucht hat, eine Aufnahme von Gene Ammons so zu setzen, dass Melf und er sie gemeinsam spielen können. Das Saxofonsolo geht durch wirklich alle Lagen hindurch und erinnert mich daran, dass ich endlich mal wieder üben sollte. In der Schlagzeugstimme zieht sich ein Grundrhythmus auf den Becken die ganze Zeit durch, den ich leider nur durch Zahlen darstellen kann: "(4)+ | 1 2 3 (4)+ | 1 2 3 (4)+ | 1 2 3..." Vielleicht ist dieser Rhythmus auch nur deshalb so auffällig, weil auch die Snare immer auf "vier und" akzentuiert? Während des Basssolos haben Bläser und Klavier Pause und Wolff steigt auf Besen um, wodurch der doch eher dumpfe und sehr satte Klang des Basses besser zu hören ist. Danach wechseln sich Melf, Helmar und Buggy mit Solostellen ab, die immer von ein paar Takten Schlagzeugsolo voneinander getrennt werden. Oder sind es doch eher verlängerte Breaks?

Helmar Marczynski
Helmar Marczynski - Tenorsaxofon


Die Komposition von Robert Döhring namens "Hootchie Coo" wird mich googeln schicken, damit ich diesen Titel korrekt schreibe. Immerhin bekommen wir als Erläuterung, dass dies der Spitzname des Jazz-Pianisten Erroll Garner sei. Hootchie Coo ist mit einem Tempo von etwa 80 Schlägen pro Minuten ruhig und balladesk. Die Hauptstimme des Saxofons ist beinahe nur gehaucht und die mit Dämpfer gespielte Trompete nimmt diese sanfte Stimmung auf um sie weiterzuführen. Vor meinem inneren Auge entstehen Bilder eines Salons, in dem die letzten reichen Paare noch zur Livemusik der Big Band (viele schwarze Musiker in weißen Jacketts mit hochglanzpolierten Instrumenten) tanzen. Muss ich erwähnen, dass Buggy wieder mitsingt?

Zu einer weiteren Tradition scheint es zu gehören, dass pro Abend wenigstens ein Stück in Quartettbesetzung gespielt wird. Daher darf Melf noch die Ansage zu "I remember April" machen und verlässt dann die Bühne. Das Lied ist weitaus schneller - etwa 48 Takte pro Minute - und überall im Raum tippen die Leute den Takt auf ihre Knie oder die Tische.

Melf Holmer
Melf Holmer - Trompete und Flügelhorn


Danach muss Buggy an seine Weltraumorgel wechseln und nimmt prompt die falschen Noten mit. Immerhin stimmt der Anfangsbuchstabe, er erwischt irgendetwas mit P und hätte "Papa's got a brand new bag" von James Brown benötigt. Das Stück ist sehr funky und damit bei mir sofort hoch im Kurs. Die Schlagzeugstimme, in der unheimlich viel Snare und Hi Hat vorkommen, wäre von meinem alten Big Band Leiter sicherlich als "richtig nervös" betitelt worden. Ich komme mal wieder nicht darum herum, den Rhythmus aufzuschreiben, um ihn aus dem Kopf zu kriegen: "1+ 2 3 4 | 1+ 2+ 3 4". Oder lest ihr lieber "Degge deng deng deng | degge degge deng deng"? Aber wir sind hier ja nicht in einer Wise Guys Nebenstimme sondern direkt am Anfang der Pause. Dass Lena und ich auf Melfs: "Jetzt kommt das letzte Lied vor der Pause" spontan mit: "Also los!" antworten liegt übrigens nicht daran, dass wir so dringend wegwollen sondern eher an Bodo Wartke, den Melf da ohne es zu wissen zitiert hat.

Nach der Pause geht es mit "People make the world go round" los, das im Original von The Stylistics ist. Das Bassmotiv ist so eindrücklich, dass es ausgeschrieben in meinen Notizen landet. Entgegen meiner ersten Annahme wird dieses Motiv im Klavier jedoch nicht durch Quinten sondern durch Quarten ergänzt. Ich sag ja: Gehörbildung mangelhaft! Das Schlagzeug fällt durch viele Rimshots auf, die einen trockenen und percussiveren Klang hervorrufen, als es die Snare sonst macht. Während des Trompetensolos spielt Buggy an seiner Weltraumorgel das Bassmotiv die ganze Zeit stumm - also ohne die Tasten wirklich anzuschlagen - mit. Inzwischen bin ich mir übrigens auch ganz sicher, das Robert den 1-2-4 Fingersatz verwendet. Das kommt davon, wenn man sich von Bassisten immer so sehr in den Bann ziehen lässt!

Wolff Reichert
Wolff Reichert - Schlagzeug


"WTC" ist wieder eine Komposition von Robert Döhring. Das Thema in der Trompetenstimme ist komplett synkopisch aber trotzdem noch gut nachvollziehbar. Generell sind heute alle Stücke auch für unerfahrene Hörer harmonisch gut zu verstehen. Wir sind ganz offensichtlich auf einem einsteigergeeigneten Gig gelandet. Während des Saxofonsolos spielt Robert einen tollen Walking Bass als Untermalung, der trotzdem nicht zwangsläufig von Helmar ablenkt. Während ich Melf beobachte, denke ich plötzlich an Annika und ihre ersten Trompetenstunden. Damals hatte sie mir erzählt, dass man entweder mit den Fingerspitzen auf die Ventile drückt (eher "klassisch") oder mit flachen Fingern (eher Jazz). Wie jedes Dogma ist auch dieses dazu da, durchbrochen zu werden. Melf wechselt fröhlich zwischen mit den Spitzen und flach aufgesetzten Fingern hin und her.

In Helmars Arrangement "For You" des Komponisten Gene Ammons geht es vom Tempo her mit ca. 66 Takten pro Minute wieder richtig zur Sache. Dass die Trompete durch den eingesetzten Dämpfer in den Höhen wieder viel angenehmer klingt als ungedämpft, bemerke ich fast nur am Rande, denn ich bin ziemlich gefesselt von der Art, in der Robert seine Bassläufe spielt. Solche halsbrecherischen Läufe im Wechselschlag mit Zeige- und Mittelfinger anzureißen, wäre meiner Meinung nach logisch. Wie er es schafft, passagenweise nur den Zeigefinger zu nutzen ohne dabei fieseste Krämpfe zu bekommen, ist mir ein absolutes Rätsel!

Robert Döhring
Robert Döhring - Kontrabass


Burt Bacharach hat mit "This guy's in love with you" ein Werk verfasst, zu dem die Leute angeblich sogar haben tanzen können. So behauptet zumindest Melf, der wieder zu seinem Flügelhorn greift. Ich würde es am ehesten mit Rumba versuchen, aber mangels Platz und mangels Tanzpartner muss ich die Idee schnell wieder verwerfen. Statt dessen kann ich mich darauf konzentrieren, dass sich Flügelhorn und Saxofon an den Unisonostellen extrem gut mischen. In seinem Raumschiffsolo deutet Buggy gleich zu Anfang an, aus der Tonart ausbrechen zu wollen, tut es aber dann doch nicht. Trotzdem hat diese kurze Andeutung viel Spannung aufgebaut und lässt mich aufmerksam darauf warten, ob ein solcher Fluchtversuch noch einmal passiert. Für das Basssolo muss Wolff wieder ganz leise werden und löst das diesmal, indem er die Snare mit der Hand und die Becken mit einem Besen und dem Ring am Besen spielt.

Melf hat sich den heutigen Tag mit einem Pädagogikseminar um die Ohren schlagen dürfen und musste dafür ein Arrangement abliefern, welches auch von jungen Menschen gespielt werden kann. Die verschmitzten Seitenblicke deuten an, dass das Küken sich heute hinter dem Schlagzeug versteckt haben könnte. Ob Stevie Wonders "Isn't she lovely" nun eher für junge oder alte geeignet ist, möchte ich nicht beurteilen müssen. Ich kann da ja eh nur für die jungen Leute sprechen, und die mögen es.

Mit "Blues-a-rumba" von Gene Ammons soll der Abend beschlossen werden. Robert löst einen Lacher aus, indem er ausgerechnet Wolff fragt, in welcher Tonart sie das Stück spielen. Es scheint die gleiche zu sein, wie schon den ganzen Abend, denn Wolff stimmt keine der Trommeln nach ;-) Ich schreibe als einziges Stichwort "Latin" auf. Das scheint charakteristisch zu sein, dass meine Notizen undetaillierter werden, je näher ein Konzert seinem Ende kommt. Jedenfalls darf ich mich endlich über ein umfangreiches Schlagzeugsolo freuen. Dazu geben Melf und Helmar den Blick auf Wolff frei indem sie sich einfach an den Rand der Bühne stellen. Zwischendurch steigt Helmar die paar Stufen hoch und spielt quasi von hinter der Bühne weiter.

Gruppenbild


Doch auch im Birdland kann man nicht zwangsläufig ohne Zugabe verschwinden und so werden die fünf noch gebeten, "My funny Valentine" zu spielen. Auch ohne Gesang bildet das verträumte Stück einen schönen Abschluss für einen gelungenen Abend.

Jetzt erwarten wir - neben der Vocal Session am Mittwoch und der Frage: "Sing ich oder sing ich nicht?" - mit Spannung die Entwicklungen im April, dessen Rock'n'Roll-Auszeit angeblich dafür verwendet werden wird, die Reichert-Brüder wieder gemeinsam auf die Bühne des Birdland zu bringen. War Wolff noch vor wenigen Wochen vorgeworfen worden, er haben viele seiner (Jazz-)Feinheiten verloren, ist dieser Projektmonat ideal geeignet, um Hardrock und Punk auf die Plätze zu verweisen. Wird "The Wolfman" beweisen können, dass der Spagat zwischen zwei so unterschiedlichen Stilen auch auf hohem Niveau machbar ist?

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